H. Ein Paar kritische Fragen

[446] Eigentlich wären wir in unseren Betrachtungen über das, was man nicht vergessen sollte, so ziemlich am Ende. Wir haben gesehen, daß die Etikette keineswegs starren Regeln gehorcht, sondern Spielraum läßt, in dessen Schranken neben dem kalten Buchstaben auch das warme Herz regiert. Doch könnte man kommen und ein paar kritische Fragen stellen, die gerade heute im Zeichen der Rückkehr zum guten Benehmen, zur bewährten Form, zur korrekten äußeren Lebensführung auftauchen. Sie sind weder durch starre Regeln noch durch willkürliche Handhabung zu lösen, sondern erfordern ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl und Takt.

Sicherlich hat es die Jugend von heute leichter, sich kennenzulernen. Sport und Geselligkeit bringen sie zusammen, ohne daß es immer der Vermittlung Älterer bedürfte. Die Gleichberechtigung der Frau, ihre tätige Anteilnahme am beruflichen Alltag schaffen weit mehr als früher Kontakt zum männlichen Geschlecht. Aus der umsorgten und wohlbehüteten »höheren Tochter« von einst wurde die moderne Eva, die mit beiden Beinen im Leben steht, sich mit Hand und Kopf ihren Lebensunterhalt verdient und mitgeholfen hat, die männliche Überheblichkeit stark zu erschüttern.

Und doch bleibt sie in irgendeinem Winkel ihres Herzens noch immer Frau. Männer sollten das nie vergessen! Weder der Berufskollegin noch jenem Wesen gegenüber, das sie eines Tages sehen – auf der Straße, irgendwo, ohne einen [446] rettenden Dritten, der vorstellen könnte. Das sie aber nichtsdestoweniger kennenlernen möchten. Weil es möglicherweise der Frau ihrer Träume ähnelt. Der Wunsch, festzustellen, ob Wirklichkeit und Traum übereinstimmen, ist nur allzu verständlich. Was also tun, wenn wir IHR eines Tages begegnen? Kann, darf, soll man dieses eine, vielleicht einzige Mal und mit ihm das Traumwesen vorübergehen lassen – ohne einen Versuch der selbstverständlich korrekten und formvollendeten Annäherung?


»Mein schönes Fräulein, darf ich wagen ...«

Der dreifache Dr. Faust stellte diese Frage dereinst an Margarete. Seither haftet ihr etwas Diabolisches an. Und wenn man sie heute an ein modernes Gretchen richten wollte, könnte man gewärtig sein, daß einem geantwortet würde, das sei »des Landes nicht der Brauch«. Denn auch moderne Mädchen haben den Faust noch im Kopf. Und wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, daß es des Landes – und vieler Länder – tatsächlich nicht der Brauch ist. Zumindest nicht bei jenen, die Wert auf Korrektheit legen. Und deren gibt es, Gott sei Dank, noch eine ganze Menge.

Wenn wir also die Frage ganz genau formulieren und sagen: Darf ein Herr eine unbekannte Dame auf der Straße zum Zwecke der Bekanntschaft ansprechen? – so muß die ebenso konkrete Antwort leider lauten: Nein. In der Tat birgt dieses Ansprechen zahlreiche peinliche Risiken. Die Betreffende kann verliebt, verlobt, verheiratet und Mutter entzückender Kinder sein. Sie kann sehr feste Vorstellungen von guten Formen haben, so daß Herren, die sie mir nichts dir nichts auf der Straße ansprechen, ihren männlichen Idealen nicht im geringsten ähneln. So stehen wir also vor dem Problem: Was tun, wenn SIE uns plötzlich begegnet? Was tun, um sie kennenzulernen, ohne die Form zu verletzen und den Eindruck zu erwecken, als sei uns diese Art, Bekanntschaften zu machen, geläufig?

Die Sache mit dem angeblich verlorenen Taschentuch ist zu alt, als daß eine Frau heute noch darauf hereinfiele – es sei denn, Gott Amor hat ein Einsehen und läßt die Begehrte tatsächlich etwas verlieren. Aber vielleicht sucht die Betreffende ein Lokal, ein Café oder einen anderen neutralen Ort auf, an dem sich die Gelegenheit zu einer kleinen Aufmerksamkeit ergibt, die zum Anknüpfungspunkt werden kann? Das wäre eine, wenn auch schwache Hoffnung auf Kontaktaufnahme.

Ich kenne zwei sehr nette und kultivierte Leute, die sich folgendermaßen kennenlernten: Sie bummelte eine Hauptstraße entlang – er erblickte sie, war hingerissen und suchte krampfhaft nach der geeigneten Taktik, was schon deshalb nicht so einfach war, weil er sie sofort sehr richtig als Dame eingeschätzt hatte. Er glaubte nun zu wissen, daß sie ihn noch nicht bemerkt haben konnte, näherte sich ihr, zog höflich den Hut und fragte nach einer Straße, von der er genau wußte, [447] daß sie in Marschrichtung der Dame lag. Er erhielt höflich Auskunft – sein Opfer ahnte noch nichts von seinen Absichten. Er bedankte sich vollendet und sagte dann mit sehr ernstem Gesicht etwa folgendes: »Und jetzt, gnädige Frau, habe ich noch eine Bitte: Was halten Sie von verhältnismäßig gut erzogenen Männern, die eine Dame auf der Straße zwar nicht ansprechen dürften, weil sich das eigentlich nicht gehört – die es aber trotzdem tun, weil sie sich freuen würden, wenn sie diese Dame ein Stückchen begleiten dürften – und zu diesem Zweck zu einer Notlüge greifen, die sie aber bereits nach einer Minute reuevoll eingestehen?«

Die Antwort ist nicht genau überliefert. Was dagegen feststeht, ist die Tatsache, daß die beiden längst verheiratet sind.

Ich weiß das deshalb genau, weil ich Trauzeuge war.

Soviel über Bekanntschaften auf der Straße, wie man sie eigentlich nicht machen dürfte.


»Suche einen Lebenspartner«

Das soll vorkommen. Häufiger noch ist, daß man ihn nicht in der Form findet, die den eigenen Vorstellungen entspricht. Diese Vorstellungen sind anfänglich zumeist so hochgeschraubt, daß die nähere Umgebung keine geeigneten Exemplare aufzuweisen hat.

Männer träumen von einer Frau, die schön wie ein Glamour-Girl, reich wie eine Konzernerbin, intelligent wie Madame de Staël ist. Und kochen können soll sie nach Möglichkeit wie die eigene Mutter dereinst zu Hause.

Frauen wünschen sich den strahlenden Helden eines Wildwestfilms, der das Gemüt eines Bernhardiners mit dem Bankkonto des »Mr. 5%« vereint.

Davon träumt man bei beiden Geschlechtern mit Sicherheit unmittelbar nach Eintritt ins Erwachsenenalter. Dann aber macht die Zeit, unterstützt vom reifenden Verstand, diverse Abstriche, und das Ergebnis ist – der richtige Ehepartner. Er kann, soweit männlich, getrost einen kleinen Embonpoint haben, eine Brille tragen und braucht von Eishockey und Freistilringen nichts zu verstehen. Dafür ist er ein geschätzter Mitarbeiter seiner Firma, zahlt pünktlich die Beiträge für Lebensversicherung, Altersversorgung und Bausparkasse und kontrolliert die Schulaufgaben der Kinder.

Madame ist auch nicht ganz die Frau jener Träume, sondern die der viel wertbeständigeren Wirklichkeit. Daß sie zehn oder gar zwanzig Zentimeter mehr Taillenweite hat als die letzte Magazinschönheit, stört gar nicht. Dafür kann sie wunderbar stricken, die Kinder sehen wie kleine Prinzen aus, der Haushalt blitzt – und jeder Versuch, eine Hilfe anzustellen, wird von ihr energisch abgelehnt.

[448] Aber, werden die Herren fragen, wie lernt man sich kennen, wenn man zurückgezogen lebt und wenig Gelegenheit zur Geselligkeit hat? Wie steht es um Heiratsannoncen und Heiratsvermittlungen? Sind sie »gesellschaftsfähig«?

Nun – es gab eine Zeit, da hatten Heiratsannoncen einen leichten Hauch des Unseriösen an sich. Das braucht heute durchaus nicht mehr der Fall zu sein. Die Tatsache, daß zahlreiche glückliche Ehen »auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege« zustande gekommen sind, beweist ihre grundsätzliche Berechtigung. Wer sie heute noch ablehnt, stößt sich vermutlich an der keineswegs immer geschmackvollen Form, in der sie gehalten sind. Die erhabene Absicht, sich zu verbinden und eine Familie zu gründen, kann durch unglückliche Formulierung des Heiratsinserats viel von ihrem Ernst verlieren. Nicht selten stellt sich auch reines Geschäftsinteresse so unverblümt in den Vordergrund, daß sich der Lesende, sofern er nicht ebenfalls ein kommerzielles Ziel verfolgt, abgestoßen fühlen muß, denn bei allem Verständnis für die Notwendigkeit einer gewissen wirtschaftlichen Übereinstimmung sollten derartige Punkte doch so zurückhaltend wie möglich formuliert werden.

Andererseits wird man keinem auf diesem Wege kennengelernten Partner zu nahe treten, wenn man von ihm erwartet, daß er auch bei gegebener Zuneigung in einer gründlichen Überprüfung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch geeignete Dritte kein unberechtigtes Mißtrauen sieht. Wer nichts zu verbergen und zu Beginn der auf diesem Wege geschlossenen Bekanntschaft alle Karten offen auf den Tisch gelegt hat, braucht diese Maßnahme nicht zu fürchten. Denn – wer diesen Weg geht, muß mit einem gewissen Risiko rechnen. Die Form lockt – das beweisen die Gerichtsakten zur Genüge – nicht nur Menschen mit besten Absichten, sondern auch Abenteurer. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß man »Heiraths-Gesuche« schon um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts kannte. In ihnen suchte »ein gebildetes, in allen weltlichen Arbeiten erfahrenes Frauenzimmer, 26 Jahre alt«, einen »soliden, gebildeten Mann, wo man auf gute Behandlung rechnen dürfte«.

Und daß seit Jahrzehnten »vornehme Eheanbahnungen«, also Heiratsvermittlungen, existieren – sicherem Vernehmen nach sogar sehr gut –, beweist, daß auch diese Einrichtungen, sofern sie in den Händen gebildeter, taktvoller und verantwortungsbewußter Menschen mit persönlichem Einfühlungsvermögen liegen, ihre Berechtigung haben.

Beide Wege, einen Lebenspartner kennenzulernen, mögen nicht jedem liegen. Wenn sie jedoch von Menschen in Anspruch genommen werden, deren Absichten redlich sind, ist kaum etwas gegen sie einzuwenden.


»Sie sind ein Narr!«

Gewiß – es gibt schon Situationen, in denen eine derartig freimütige Behauptung [449] einige Berechtigung haben mag. Dennoch werden wir uns zu einer solchen Formulierung kaum hinreißen lassen – das »Sie« zieht gewisse Schranken. Und damit kommen wir zum Problem des »Du« – mit dem heute weit weniger sparsam umgegangen wird als früher. Sport und Beruf bringen nicht nur ganz junge Menschen zusammen, und die Interessenverwandtschaften führen häufig sehr schnell zur Duzfreundschaft.

Nun war das »Du« außerhalb der engsten Verwandtschaft einmal so etwas wie eine Auszeichnung von beachtlichem Seltenheitswert. Unterpfand einer unerschütterlichen Freundschaft, die über den äußeren gesellschaftlichen Rahmen hinaus auch innere, geistig-seelische Bindungen enthielt. In jüngster Zeit ist dieser wertvolle Hintergrund immer mehr verflacht. Erstaunlicherweise stehen zahllose Menschen auf dem Standpunkt, ihr Verhältnis zum anderen erhalte erst dann eine Note echter Herzlichkeit, wenn er durch das »Du« auch äußerlich sichtbar gemacht werde. Und sie vergessen nur allzu leicht, daß sie mit diesem »Du« eine gesunde Distanz aufgeben, die der Erhaltung harmonischer Beziehungen wesentlich zuträglicher ist als plumpe Vertraulichkeit, wie sie sich leicht entwickeln kann.

Das »Du« führt in Versuchungen, denen uns das »Sie« nie aussetzt. Und niemand möge behaupten, daß man trotz des äußerlich distanzierenden »Sie« nicht mehr als nur gut bekannt sein könnte. Die Herzlichkeit einer Freundschaft, ihr wahrer Wert, das gegenseitige Vertrauen, die füreinander empfundene Hochachtung und das Wissen um die gegenseitige Verläßlichkeit hängen keineswegs von derartigen Äußerlichkeiten ab. Und wahrhaft kluge Leute zögern gegenüber jenen, zu denen sie sich aufrichtig hingezogen fühlen, bewußt, ehe sie diese letzte Schranke fallenlassen – weil sie sehr wohl wissen, daß das »Sie« stete Mahnung ist, sich nicht gehen zu lassen.

Ich könnte mir vorstellen, daß der weitaus größte Teil aller Duzfreundschaften seine Entstehung der beschwingenden Wirkung des Alkohols verdankt. Sein verklärender Einfluß glättet auch harte Konturen und läßt die meisten Menschen ihre Umwelt durch eine rosarote Brille sehen. Man möchte die Welt umarmen und schlägt – pars pro toto – dem Bekannten auf die Schulter: »Mensch – du bist ein Mordskerl! Laß uns Brüderschaft trinken!« Und wem würde angesichts der verkreuzten Arme und dem »Auge in Auge« schon klar, daß Duzfreundschaften zwar wie Türme aus dem Meer der Bekanntschaften emporragen – daß es aber auch ungleich mehr Krach macht, wenn sie eines Tages einstürzen?

Nicht, daß Grundsätzliches gegen das »Du« unter wahren Freunden einzuwenden wäre. Nur sollte man nichts überhasten. Und was könnte einem Besseres widerfahren, als daß einem ein geschätzter Mensch nach dem zehnten [450] Glas Cognac, bei völlig klaren Sinnen, auf die Schulter klopft und sagt: »Jetzt ist es so weit, lieber Freund, um Ihnen etwas anzuvertrauen: Ich schätze Sie viel zu sehr, als daß ich mich jetzt schon mit Ihnen duzen möchte ... Prost!« Wenn uns das nämlich passiert, haben wir einen wahren Freund gewonnen – und sind doch beim »Sie« geblieben.

Wenn wir aber eines Tages glauben, gegen alle Versuchungen, die das »Du« mit sich bringt, gewappnet zu sein, dann – nur dann verbrüdern wir uns. Und merken uns nur einige grundsätzliche Regeln.

Immer wird der Ältere dem Jüngeren, der Ranghöhere dem Rangniederen das »Du« anbieten. Eine Dame schlägt dem Herrn niemals das »Du« vor, es sei denn, sie wäre älter und würdig und lege Wert darauf, künftig mit »Tante Hermine« angeredet zu werden. Das »Du« zwischen den Geschlechtern kann nur vom Herrn ausgehen, der es in höflicher Form vorsichtig erbitten muß – nach Möglichkeit jedoch erst dann, wenn er gewiß sein darf, keiner peinlichen Ablehnung zu begegnen.

Nur angehende Liebende sind derartiger Formalitäten entbunden. Sie einigen sich zumeist, jenseits aller gesellschaftlichen Vorschriften, schweigend und doch – mündlich.


Widmungen

Sicherlich bummeln Sie auch so gern durch Antiquariate. Teils auf der Jagd nach Raritäten, teils auch nur auf den Spuren günstiger Gelegenheiten. Zu Hause packt man dann das Paket aus, beginnt zu blättern und fängt an, sich des neuen Besitzes zu freuen – mit einem Schuß lächelnden Ärgers, wenn man so sagen darf.

Über die grauslichen »Widmungen« nämlich.

Wir zitierten ja schon einmal Erasmus von Rotterdam, der gegen die »persönliche« Behandlung der eigenen Bücher nichts einzuwenden hatte und Eselsohren und Notizen gelten ließ. Soweit gehen wir, glaube ich, mit dem großen niederländischen Philosophen einig. Und wenn wir in einem antiquarischen Buch Ausrufungs- oder Fragezeichen oder Unterstreichungen, vielleicht auch Randbemerkungen entdecken, die Anerkennung, Zweifel oder eigene Gedanken zum Ausdruck bringen sollten, dann stört uns das nicht.

Was viele jedoch nicht ausstehen können, sind jene »Widmungen«, die auf der ersten Innenseite eines geschenkten Buches stehen – wohl zu dem Zweck, die Erinnerung an den Schenkenden in der Nachwelt lebendig zu halten. Da sie nur in Ausnahmefällen echte Gedanken enthalten – dann wären sie wenigstens gerechtfertigt – und zumeist über konventionelle Wünsche nicht hinausgehen, sind sie nicht nur wertlos, sondern, fast möchte man sagen, verunzieren das Buch.

Das soll keine Kampfansage sein. Im Gegenteil: Laßt uns widmen, solange wir widmen können! Aber – auf einem besonderen Stück Papier, etwa auf der Visitenkarte oder einem netten Briefbogen. Beides kann gegebenenfalls unendlich lange in dem Buch belassen werden, so lange nämlich, bis man es – einem anderen leiht. Diesen anderen, den man an der Vielfalt der eigenen Bibliothek teilhaben lassen möchte, interessiert nämlich nicht, daß »immer Deine Margarete« dir Kellermanns »Tunnel« für »stille ichbezogene Stunden« zum Träumen überließ.


H. Ein Paar kritische Fragen

Ausnahmen bilden handsignierte Autorenexemplare, einmal wegen des, hoffentlich, tatsächlichen Wertes, zum anderen, weil vermutlich die Widmung dann auch vor den Augen Dritter bestehen könnte.


Kleine Geschenke – große Gaben

Kleine Geschenke – man sagt ihnen nach, daß sie die Freundschaft erhielten. Und das tun sie auch, wenn sie mehr als eine Formalität sind und mit dem Herzen ausgesucht und überreicht wurden.

Wir Männer haben es leicht, vorausgesetzt, daß wir die Spielregeln beherrschen. Solange wir unter uns sind, wissen wir recht genau, was wir unseren Freunden überreichen. Und wenn wir es nicht wissen, weichen wir aus – zum guten Buch, das der andere noch nicht hat, zu einem Einrichtungsgegenstand kleinerer Art, der ihm noch fehlt, zu einer Jagdtasche, die wir bei ihm vermißten, als wir ihn bei der letzten Treibjagd die Munition und das »Hasenbrot« aus der Tasche seines Lodenmantels fummeln sahen. Tausend Sachen gibt es, die sich Freunde schenken können.

Und Freundinnen haben es untereinander ebenso einfach.

Schwierig wird die Frage der kleinen Geschenke und großen Gaben erst zwischen Adam und Eva, insbesondere, wenn beide nicht nur nicht verheiratet sind, sondern sich auch noch nicht allzu lange kennen, sich aber dennoch Aufmerksamkeiten erweisen wollen.

Wir Männer schenken dir, liebe Eva, im ersten Stadium unserer Bekanntschaft Blumen. Das sind duftende Höflichkeiten mit einem Schuß Verehrung darin, die dir zeigen sollen, daß wir an dich denken. Wenn es rote Rosen sind, dann – darfst du dir dabei etwas denken.

Wenn wir uns besser kennen und wissen, daß du für süße Sachen schwärmst, wählen wir vielleicht auch eine nette, dezente Schachtel mit gutem Konfekt.

Und später hast du doch sicherlich nichts dagegen, wenn wir dir ein Buch überreichen? Wir versprechen dir, dir nichts zu geben, was wir nicht selber kennen und verantworten können. Denn keineswegs alle Bücher, die da auf dem Markt sind, wären geeignete Gaben für eine junge Dame.

[453] Daß wir dir keine Kleidungsstücke, Schuhe, Strümpfe und auch keinen Schmuck schenken, wirst du unserer Erziehung zugute halten. Denn noch sind wir nicht verheiratet – und vielleicht werden wir es nie sein, ohne daß wir deshalb nicht doch gute Freunde bleiben könnten.

Überhaupt wirst du Verständnis dafür haben, daß wir uns stets auf kleine, taktvolle Aufmerksamkeiten beschränken – du willst ja nicht Beweise für die Größe unseres Bankkontos, sondern für die Herzlichkeit unseres Gedenkens zu bestimmten Anlässen. Nicht, daß wir dir nicht gern große Gaben überreichen möchten. Doch auch wenn unser nicht nur das Herz, sondern auch das Portemonnaie voll ist, müssen und werden wir uns beschränken – denn du sollst niemals auf den Gedanken kommen, daß unsere Gaben irgendwie verpflichten könnten. Sie bleiben immer nur Aufmerksamkeiten, die dich nicht im geringsten zu Gegengaben zwingen, die vom Verstand und nicht vom Herzen diktiert werden.

Andererseits wirst auch du natürlich manchmal überlegen: Ein netter Kerl – womit könnte ich ihm eine Freude machen?

Zunächst einmal eine ganze Weile mit ein paar Zeilen des Dankes, aus denen wir sehen, daß du dich gefreut hast. Denn uns geht es wie dir auch: Schenken macht mehr Freude als Beschenktwerden. Wenn du aber meinst, eines Tages sei es so weit, und du wärst nun an der Reihe, dann bleibst auch du auf bewährten Pfaden. Auch du fängst vielleicht mit einem Buch an und wählst natürlich keines über Bienenzucht, wenn du weißt, daß wir nicht einmal Honig anrühren. Vielleicht kennst du unseren Autofimmel und schenkst uns eine hübsche Schlüsselkette oder einen aufregend praktischen Schaber für feuchte oder vereiste Scheiben. Wir haben dir im Zweifelsfalle von unserem jeweiligen Hobby so viel erzählt, daß dir die Auswahl nicht schwerfällt. Nur mußt du, liebe Eva, wenn du auf beiden Seiten Enttäuschungen vermeiden willst, höllisch aufpassen, sobald du Dinge schenkst, von denen du nicht allzu viel verstehst! Dann frage lieber – erst ihn, sehr indirekt natürlich, und dann den Fachmann, etwa den Pfeifenhändler, sehr direkt! Denn nichts wäre trauriger, als wenn wir unsere Freude – spielen müßten.

Große Anlässe erfordern zuweilen große Gaben, wenn der Geldbeutel es zuläßt. Hochzeiten und Jubiläen bieten Gelegenheiten zur Überreichung von Geschenken mit bleibendem Wert. Normen lassen sich ebensowenig aufstellen, wie es möglich ist, etwa einen Geschenkfahrplan zu entwerfen. Eines aber hat sich bewährt: bei den nächsten Angehörigen, gegebenenfalls auch bei dem Betroffenen selbst, ohne Umschweife vorzufühlen, womit man Freude machen könnte, oder ob ein vorgesehenes Geschenk nicht schon anderweitig geplant sei.

Ob jedoch klein oder groß – Geschenke machen um so größere Freude, je liebevoller sie erdacht werden und je – unerwarteter sie sind.


[454] Wenn Sie, verehrte Freunde, mit uns bis hierher durch das keineswegs nur dornige Gestrüpp der Etikette gebummelt sind, werden Sie – das hoffen wir zuversichtlich – mit uns einer Meinung sein:


Es geht mit Etikette leichter, reibungsloser, harmonischer. Und sie ist keineswegs starre, sinnlose Form, sondern wohlüberlegter Fahrplan durch den Alltag des Lebens – Fahrplan, der überall Anschluß gewährleistet, jedenfalls bei jenen, die ebenfalls nach Fahrplan reisen. Und das tun die meisten. Zu ihnen wollen wir gehören.


Nicht zuletzt auf Grund der Erkenntnis, daß Etikette eine Frage des Taktes, Takt wiederum Auftakt zum Kontakt ist ...

Quelle:
Graudenz, Karlheinz: Das Buch der Etikette. Marbach am Neckar 1956, S. 446-455.
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